Ich sitze in einem kleinen Apartment in Haifa. Draußen brennt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Hier drinnen läuft die Klimaanlage auf Hochtouren.
Eine besondere Begegnung
Eine ganze Nacht habe ich im Parkhaus in Tel-Aviv im Auto übernachtet. Der Türcode zu unserer Ferienwohnung war falsch. Da sitze ich und denke: Als Resilienz Coach sollte das kein Problem sein für mich.
Mit meiner ganzen Familie bin ich seit einem Tag in Israel. Mit dieser Reise geht mein größter Wunsch in Erfüllung: einmal als Familie Zeit in Israel verbringen. Unser Reisehighlight ist die heutige Begegnung mit Esther. Bereits vor Jahren haben wir eine Patenschaft für sie übernommen.
Esther stammt ursprünglich aus Polen und hat dort den Holocaust überlebt. Als wir uns an diesem Morgen auf den Weg machen, um Esther endlich persönlich kennenzulernen sind wir alle aufgeregt. Vor uns steht eine kleine zierliche Frau, die uns unglaublich herzlich begrüßt.
Sie führt uns in ihre kleine schlichte Wohnung. Da die Stühle nicht ausreichen, bietet sie uns gleich neben sich einen Platz auf dem Sofa an. Die Atmosphäre ist herzlich und familiär. Wir bekommen Saft und Wasser angeboten, Obst und Kaffee.
Was ist „tot“?
Und dann beginnt Esther zu erzählen, auf Jiddisch und wir verstehen jedes Wort. Sie erzählt von ihrem Vater, der an einem Sabbat seine ganze Familie in aller Eile in den Wald schickt. „Wir hatten unsere besten Kleider an“, sagt Esther und erinnert sich, dass ihre Mutter ihr nur noch hinterherruft: „Esther, lauf ganz schnell im Zickzack – wie ein Kaninchen – damit dich die Kugeln nicht treffen!“
Im selben Moment sieht Esther, wie ihre Mutter tödlich getroffen zusammenbricht. Esther ist fünf Jahre alt, sie weiß nicht, was tot bedeutet und erklärt ihrer dreijährigen Schwester: „Mutter liegt auf dem Boden und bewegt sich nicht mehr.“
In Esthers Apartment ist es still – wir wagen kaum zu atmen. Hin und wieder schauen wir uns stumm an. Wie kann ein Mensch so etwas erleben und überleben?
Wie kommen wir im sicheren Deutschland dazu, Resilienz Trainings zu halten, ohne dass die meisten von jemals solche lebensbedrohenden Situationen erlebt haben?
Würde sie den nächsten Morgen erleben?
„Lauf ganz schnell im Zickzack – wie ein Kaninchen“, sind die letzten Worte ihrer Mutter. – Und so läuft Esther entschlossen und blitzschnell mit ihrer kleinen Schwester an der Hand weiter. Erst als es dunkel wird, wagen sie es, sich irgendwo ins dichte Gebüsch zu setzen und auszuruhen. In der Ferne hören die beiden Soldaten rufen und Gewehrschüsse.
Irgendwann schlafen sie dann doch müde und völlig erschöpft ein. – Würden sie den nächsten Morgen erleben? Dieser ersten Nacht irgendwo im Wald folgen viele, viele Nächte. Esther erzählt: „Wir haben neun Monate im Wald gelebt. Tagsüber haben wir uns versteckt und nachts, wenn die Soldaten weg waren, sind wir auf Maisfelder gegangen und haben uns etwas zu Essen geholt. Das Trinken aus Pfützen wurde zur Normalität.“
Beim Zuhören wechseln unsere Gefühle zwischen Scham und Bewunderung. – Scham darüber, als Deutsche mitverantwortlich für so viel Leid zu sein und Bewunderung darüber, wie die damals fünfjährige Esther die Führung für sich und ihre Schwester übernimmt.
Der Blick nach vorne lässt sie überleben
Wie durch ein Wunder überleben die beiden. Sie finden Verwandte, die ebenfalls überlebt haben und können sich bis Kriegsende verstecken. Jeden Morgen fasst Esther neu den Entschluss: „Steh auf! – Eines Tages wirst Du – gemeinsam mit Deiner kleinen Schwester – in Freiheit leben können! – Der Blick nach vorne lässt sie überleben!
Gespannt und gebannt hören wir Esther zu. Überwältigt von so viel Dankbarkeit für ein gutes Leben sitzen wir sprachlos neben ihr. – Was für ein Vorrecht ist es, Esther persönlich kennengelernt zu haben.
Was trägt durch Krisen?
Als Esther zu Ende erzählt hat, ist es minutenlang still. Die Klimaanlage surrt und die Wanduhr tickt leise vor sich hin. Meine Gedanken gehen einige Jahre zurück. Als Führungskraft erlebe ich einen beruflichen Totalcrash. Ein Generationswechsel, den ich als Geschäftsführer mit zu verantworten habe, gerät außer Kontrolle. Am Ende packe ich meine Koffer und verlasse mit meiner Familie den Ort meiner Niederlage.
Damals zieht es mir den Boden unter den Füßen weg. Heute
höre ich Esther zu und denke:
Wir Menschen können mehr
verkraften, als wir denken.
Es gibt kaum etwas, das mehr durch Krisen trägt als
zugewandte und verlässliche Freundschaften.
Esther lebt heute mit vielen anderen Holocaust-Überlebenden zusammen. Gemeinsam
gestalten sie das Leben, feiern Feste, hören einander zu und sind füreinander
da.
Familie – mein Halt
Für mich war und ist meine Familie der Halt und Anker in meinem Leben. Wenn das Leben zuschlägt, wenn Krisen unausweichlich sind, dann danke ich Gott für meine Familie. Gemeinsam reden und schweigen, lachen und weinen, das Leben feiern und die Tiefen miteinander aushalten. – Das gibt mir Kraft!